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Wolfgang Kuhle
TORSO ALS PRINZIP

Geboren am 1.Mai 1935 in Reichardtsdorf in Thüringen
Möbeltischlerlehre in Gera
ABF (Arbeiter- und Bauern-Fakultät) in Dresden
Studium und Lehrauftrag der Bildhauerkunst ebendort
Künstlerische Oberleitung der Bildhauerarbeiten beim Wiederaufbau der Semperoper
1986 Übersiedlung nach München
dann Braunschweig – Künstlerischer Mitarbeiter am Institut für elementares Formen des Bildhauers Jürgen Weber an der dortigen TU
1993 Ernst-Rietschel-Preis für Bildhauerei in Dresden
1998 Rückkehr in die "Neuen Bundesländer", lebt in Neuendorf am Oderhaff

   

"Torso als Prinzip" - der Titel dieser Ausstellung klingt nahezu ein wenig apodiktisch und hätte wohl sogar mit einem Ausrufezeichen versehen werden können. Ganz so ausschließlich spiegelt sich das allerdings im Werk des Künstlers – wie hier auch zu besichtigen ist - schließlich nicht wieder – aber, da ist schon ein Programm, eine Auffassung vom Bildhauerisch-Plastischen gemeint – ‚Prinzip' also als "Vorrang" und "an erster Stelle", wohl weniger als ausschließlicher Grundsatz.
Das Werk Wolfgang Kuhles steht mit diesem Vorzug einer bestimmten Gestaltungsform des dreidimensionalen Raumkörpers in einer Tradition, die aus dem Ende des 19. Jahrhunderts kommend (der Franzose Auguste Rodin) dem nachfolgenden 20. wesentliche Impulse verlieh und bis heute herausfordernd und inspirierend wirkt. Der menschliche Körper in der künstlerischen Gestalt auf den Rumpf konzentriert, zumindest unter Weglassung des Kopfes oder der Extremitäten.
Torso – italien. eigtl. ‚Kohlstrunk', von spätlateinisch tursus oder altgriechisch thýrsos ‚Stengel', aber auch ‚Fruchtkern'. Halten wir uns hier und heute also an den ‚Fruchtkern' als botanisch-künstlerische Definition des Torsos.
Erfunden hatte das auch Rodin nicht. Jeder Gymnasiast würde auf Anhieb die Venus von Milo nennen, jene mamorne, armlos auf uns gekommene antike Schönheit aus dem 2. Jh. vor Chr. Nur ist diese berühmte Torsohaftigkeit nicht künstlerische Absicht, sondern dem rüden Umgang nachfolgender Jahrhunderte mit dem Kunstwerk geschuldet. Kunsthistorisch Gebildete, Liebhaber der Bildhauerkunst zumal, werden vielleicht den Torso von Belvedere anführen, 200 Jahre älter noch als besagte Venus und für die Neugeburt des Torsos als autonome Ausdrucksform der Plastik wohl das eigentliche Schlüsselwerk. Winkelmann hat diese Figur als das "höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums" gepriesen. Rodin ließ sich von ihr zu seinen eigenen Torsoschöpfungen, dem "Schreitenden" von 1888 etwa, inspirieren. Und sein Verehrer Rainer Maria Rilke bedichtete diesen "Archaischen Torso Apollos":

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften, aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
Unter der Schultern durchsichtigem Sturz
Und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

Und bräche nicht aus allen Rändern
Aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst Dein Leben ändern.

Ist das nicht wie eine Wegweisung zur Betrachtung auch dieser Ausstellung?

Bliebe auf dem Entwicklungsweg des Torsos zum autonomen Genre der Plastik natürlich noch der Renaissance-Heroe Michelangelo zu nennen, der sich vielleicht mit einem Auftraggeber überworfen hatte, der die Produktion eines Werkes nicht mehr finanzieren konnte oder wollte, so dass der Meister die Lust verlor – ist so das ‚Non finito' seiner "Pietà Rondanini" oder der Sklavenfiguren zu erklären – einfach nicht zu Ende gemacht und doch vollendet? Oder, wie Rodin es einmal kolportiert haben soll: "Schöner als eine schöne Sache ist die Ruine einer schönen Sache."
Auch die latente Rätselhaftigkeit des Torsos vermittelt sich am Beispiel Michelangelos.
Seit Rodin also gibt es den Torso als Absicht und Konsequenz mit dem Credo, das, so Rodin selbst, "ein gutgemachter Torso das ganze Leben enthält und man ihm nichts hinzu füge, wenn man daran Arme und Beine anbrächte".
Seit Rodin habe sich eigentlich jeder Bildhauer der Neuzeit kurz oder lang mit diesem Phänomen beschäftigt, meinte der deutsche Plastiker Bernhard Heiliger, der von dessen Möglichkeiten der "Abstraktion und Reduktion, der Zurückführung auf Wesentliches und der Verfremdung des gewohnten Menschenbildes“ fasziniert war, "durch Weglassen etwas Neues hinzutreten zu lassen, um so ein neues ganzheitliches Formerlebnis sichtbar zu machen." Aristide Maillol und Wilhelm Lehmbruck, Alexander Archipenko und Henry Moore, Alberto Giacometti und Constantin Brancusi wären da nur als einige herausragende Vetreter des Torsos der internationalen klassischen Moderne zu erwähnen.
Heiliger weist weiter auf einen Aspekt des modernen bildhauerisch-plastischen Torsos hin, der für ihn mit Infragestellung des überkommenen gewohnten Menschenbildes zu tun hat, um neue, individuelle einmalige Einblicke zu gewinnen, offen zu legen und plastische Form werden zu lassen.
Heiligers Kollege und bildhauerischer Antipode Gustav Seitz geht einen entscheidenden Schritt weiter und identifiziert den Torso als "die Lust am Unfertigen in der Welt, die selbst nicht mehr heil ist." Auch das sollte ein Ansatz zeitgenössischer Torsogestaltung werden.

Wo sind da der Bildhauer Wolfgang Kuhle und sein Werk ein- und zuzuordnen?
Als er 1959 an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden sein Studium begann, leitete dort Walter Arnold die Bildhauerklasse. Arnold stand für ein einheitliches, harmonisches Menschenbild in der Plastik, voller Anmut und Schönheit und harmonischer Daseinsfreude. Konflikte fanden scheinbar in einer anderen Welt statt. Die notwendigen Reibungsflächen zur Findung der eigenen künstlerischen Persönlichkeit und einer originären bildhauerisch-plastischen Handschrift verwirklichten wichtige Schüler Arnolds in der Auseinandersetzung und Abgrenzung. Die zu Wolfgang Kuhle nur wenige Studienjahre älteren Dresdner Absolventen Wieland Förster und Werner Stötzer gingen von dort zu Meisterstipendien bei Fritz Cremer und Gustaf Seitz nach Berlin. Jo Jastram wechselte noch während des Studiums von der Elbe an die Spree und zu Heinrich Drake.
Noch 1979 lautet ein kunstwissenschaftliches Fazit, Dresden habe in jüngster Vergangenheit, im Gegensatz zur Malerei und Grafik, keine bedeutende, in spezifischen Stileigentümlichkeiten fassbare Bildhauertradition hervorgebracht: es gab keine "Dresdner Bildhauerschule".
Vielleicht sieht Wolfgang Kuhle das als "Betroffener" ja anders. Für ihn war wichtig, das Walter Arnold Hans Steger , den Schüler Karl Albikers und Wilhelm Gerstels nach Dresden geholt hatte, der nicht nur solides Handwerk vermittelte, sondern grundlegende Auffassungen vom äußeren und inneren Erscheinungsbild der Figur als Einheit, die er in geschlossenen Körperarchitekturen zwischen klassisch beruhigter und expressiv bewegter Darstellung ausbreitete.
Wichtig war wohl auch Arnolds Assistent Gerd Jaeger, der dann dessen Nachfolger wurde. Jaegers archaisierenden, spröd-scharfkantig aufgerissenen, zu reduzierten figuralen Volumen geronnenen plastischen Körper waren eine Reaktion auf die allgemeine Verunsicherung gegenüber Schönlinigkeit und Harmonie und realisierten sich seit den 70 er Jahren schließlich in dramatisierten Torsi.
Der Torso wurde zu einem stilistischen Merkmal ostdeutscher Plastik, der DDR-Kunst, von Werner Stötzer bis Wieland Förster und Wolfgang Kuhle, von Regina Fleck zu Friedrich B. Henkel und Claus-Lutz Gaedicke...usw. Diese Entwicklung mag wesentlich auch der Abgrenzung gegen einen quasi-offiziellen deklamatorischen Realismus sozialistischer Prägung geschuldet sein.
Wolfgang Kuhles Torsi-Werk wurde einmal von Dieter Schmidt mit "Leid und Selbstbehauptung" be- und überschrieben. Seine Figuren charakterisiert ein häufig dramatischer Körpergestus. Es geht, im Barlachschen Sinne, um "die äußere Darstellung eines inneren Vorganges", es geht um seelische Zerissenheit und Verunsicherung, Drang nach Selbstbehauptung, äußeres Gebundensein und innere Loslösung, Bedrängung und Befreiung. "Als Anklage gegen die physische, psychische und geistige Unterdrückung" hat Wolfgang Kuhle seine Torsi-Figurationen von Anbeginn verstanden: "Ich liebe die Freiheit", heißt es in einem Statement des Künstlers.
Der Bildhauer findet und formuliert Volumenordnungen und Oberflächenstrukturen, die ein äußeres Erscheinungsbild von Entwicklungsstadien zwischen embryonaler Figuration und Vanitas-Gestalt fixieren. Wir erleben im Werk gleichermaßen die "Geburt einer Plastik", deren formwerdende Loslösung aus dem Massevolumen und können andererseits Zeuge von deren Auflösung, deren Überführung in figural-abstrakte Erinnerungszeichen sein. Eine letzte Konsequenz seiner bildhauerisch-plastischen Intentionen hat der Künstler einmal aus dem Atelier in den Landschaftsraum seines damaligen Usedomer Refugiums verlegt, als er Mitte der 80er Jahre Fundstücke, Balken und Pfähle zu quasi-figuralen Mahnzeichen kombinierte.
Und doch dominiert das Beharren auf der "menschlichen Figur als der Muttersprache des Bildhauers", an die der Torso als Gestaltelement nun einmal gebunden ist, deren Kontinuität der Autor für sein Schaffen auch in dieser Ausstellung demonstrativ mit der Verweigerung jeglicher zeitlicher Zuordnung und Datierung zusätzlich deutlich macht.

"Torso als Prinzip" also.

Klaus Tiedemann

     
 
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